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Fahren auf Fingerzeig

Darmstadt. Immer mehr Assistenzsysteme sollen das Autofahren erleichtern. Der Weg führt in Richtung automatisiertes Fahren. Welche Rolle spielt der Mensch hinter dem Steuer? Forscher der TU Darmstadt stellen „pieDrive“ vor, ein interaktives Bedienkonzept für die Fahrzeuge der Zukunft. pieDrive baut auf das Projekt des seit 2008 im Rahmen eines DFGProjektes an der TU Darmstadt entwickelten manöverbasierten Fahrens („Conduct-by-Wire“) auf. Die Idee dahinter ähnelt der Art und Weise, wie auch Menschen ein Auto steuern. Eine Autofahrt wird als Reihe von „Manövern“ gesehen: „geradeaus“, „vorn rechts abbiegen“, „Fahrstreifenwechsel und überholen“. Die unzähligen Einzelschritte, die zum Beispiel das Manöver „Fahrstreifenwechsel“ eigentlich ausmachen – Blick in die Spiegel, blinken, beschleunigen, Schulterblick, Auto nach links lenken, eigenen Fahrstreifen verlassen, auf den zweiten Fahrstreifen fahren – werden von geübten Fahrerinnen und Fahrern nebenher ausgeführt.

Beim hochautomatisierten Fahren erledigen das das Auto und seine Assistenzsysteme. Sie unterstützen Fahrerinnen oder Fahrer dabei, das
Fahrzeug sicher zu lenken. Erst kürzlich stellten die TU Darmstadt und der Forschungspartner Continental dazu eine teilfunktionelle prototypische Umsetzung eines umfassenden Fahrerassistenz- und Manöverautomationskonzepts im Realfahrzeug vor.

Doch an der TU wird noch eine weitere Seite des automatisierten, manöverbasierten Fahrens beleuchtet, bei der auch komplexe Fahrsituationen umfassend im Fahrsimulator untersucht wurden. Das Projekt pieDrive am Institut für Arbeitswissenschaft am Fachbereich
Maschinenbau der TU Darmstadt befasste sich mit der Frage, wie die Befehle des Fahrers beim manöverbasierten Fahren möglichst einfach und intuitiv ans Auto übermittelt werden können. „Wie gestaltet man eine interaktive Bedienoberfläche so, dass der Fahrer gut damit umgehen kann und das Gefühl hat, die Kontrolle zu behalten“, fasst Dr. Benjamin Franz zusammen, der gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Michaela Kauer pieDrive entwickelte. Michaela Kauer und Benjamin Franz entschieden sich für ein zweiteiliges System, das aus einem Head-up-Display und einem Eingabegerät in Form eines Touchpads auf der Mittelkonsole besteht.

Die in einer Straßensituation möglichen Fahrmanöver werden so unaufdringlich, aber deutlich auf die Frontscheibe projiziert, dass es aussieht, als wären sie Teil der Szenerie dahinter. Mit einem Fingerwischen auf dem Touchpad können die Fahrerin oder der Fahrer dann das Manöver auswählen, das ihr Auto ausführen soll. Der Blick bleibt dabei auf der Straße. Tempoveränderungen oder Fahrspurpositionen lassen sich ebenfalls steuern. Die einem Tortendiagramm – englisch: pie chart – ähnliche, halbkreisförmige Abbildung im Head-up-Display gab dem ganzen System seinen Namen: pieDrive. Die konkrete Auslegung ist allerdings noch variabel und kann den Bedürfnissen von Autoherstellern angepasst werden.

So ist auch die Bedienung des Systems über Drehdrücksteller denkbar. Für die Fahrerin oder den Fahrer ist pieDrive in erster Linie ein Bediensystem. Im Hintergrund leistet es allerdings mehr und fasst verschiedenste Assistenzsysteme zusammen. „Dem Fahrer ist egal, welches Assistenzsystem gerade arbeitet – er möchte nur die Funktionen nutzen“, erklärt Benjamin Franz. Indem pieDrive die Aufgaben mehrerer Assistenzsysteme vereint, kann es auch Überforderung verhindern, wenn mehrere Systeme mit Warntönen oder Reaktionen gleichzeitig um die Aufmerksamkeit der Fahrerin oder des Fahrers heischen. Würden mehrere Fahrassistenten eigentlich lautstark vor einem Fahrstreifenwechsel warnen, bietet pieDrive die Option Fahrstreifenwechsel schlicht nicht an. Dennoch können die Fahrerin oder der Fahrer das System jederzeit „überstimmen“ und die volle Kontrolle mit herkömmlichen Bedienelementen (Lenkrad und Pedale) übernehmen. Wer will, kann aber pieDrive das Fahren weitgehend überlassen. Die aktuelle Testversion erkennt neben komplexen innerstädtischen und außerstädtischen Kreuzungen zum Beispiel Tempovorgaben und bremst vor Zebrastreifen oder für Rowdies, die dem Simulatorfahrzeug rüde die Vorfahrt nehmen.

Schnelles Lernen, hohe Akzeptanz

Bei der Entwicklung von pieDrive arbeiteten Ingenieur Franz und Psychologin Kauer Hand in Hand, damit das neue System sowohl technisch funktioniert als auch maßgeschneidert dem Menschen zu Diensten ist. Zwei Testrunden im Simulator mit fast hundert Testpersonen folgten, die ihr Simulatorauto jeweils mehrere Stunden steuerten. „Die Probanden haben extrem schnell gelernt, mit pieDrive umzugehen“, sagt Michaela Kauer. „Die erste Kreuzung haben sie meist noch verpasst, aber 50 Meter weiter gab es kaum noch Fehler.“

Auch ältere Probanden, die eingangs etwas zurückhaltender gewesen seien, hätten sich rasch auf das System eingestellt und es sehr positiv angenommen. Auch der günstigste Fahrstil für das automatische Fahren kristallisierte sich in den Tests heraus. „Das System ist ausgelegt zu fahren wie ein Chauffeur – eher ruhig, entspannt und defensiv“, erklärt Kauer. So wollten die meisten Probanden gern  gefahren werden – „auch die, die ihren eigenen Fahrstil als sportlichaggressiv beschreiben“. Vor allem für tägliche Routinestrecken, lange eintönige Routen oder dichten Verkehr konnten sich Probanden vorstellen, zur Entlastung pieDrive und den Assistenzsystemen die Arbeit zu überlassen.

Mit pieDrive ist das theoretisch-technische Konzept des automatisierten Fahrens auch in komplexen Umgebungen der Straßenpraxis ein gutes Stück näher gekommen. Auf das System hat die Technische Universität Darmstadt ein Patent angemeldet, die Entwickler Kauer und Franz haben mit Custom Interactions eine eigene Firma gegründet, die sich mit der Gestaltung und Evaluation von Interfaces beschäftigt. Damit pieDrive zur Serienreife gelangt, ist nun die Automobilindustrie gefragt, die die Entwicklung und Vermarktung automatisierter Fahrzeuge vorantreiben muss. Dann werden sich auch Rechtsexperten etwa mit offenen versicherungsrechtlichen Fragen befassen müssen, die mit der Markteinführung automatisierter Fahrzeuge einhergehen werden. Bereits beantwortet ist aber die Ausgangsfrage des Forscherteams, die auch viele potenzielle Fahrerinnen und Fahrern beschäftigen wird: „Wie fahre ich so ein Fahrzeug?“ Dank pieDrive: mit einem Fingerzeig.

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